Der kleine Jesaja
Dieser Beitrag stammt von Lucyna Saage
Am 9. Dezember holten wir Jesaja in Achim ab. Die beiden Fahrer nannten ihn „the big problem“ (Jesaja hatte so viel Angst vor Menschen, dass er beißen wollte, wenn er nicht in der Lage war, seine Individualdistanz einzuhalten). Aus diesem Grund kamen wir zum Schluss dran. Jesaja schrie und schnappte wild um sich, als er gegen seinen Willen herausgeholt wurde. Um 1:16 Uhr saß er endlich in der Transportbox, die er vorerst gar nicht verlassen wollte. Gegen 3:00 Uhr morgens, nach 35 Stunden Fahrt, kam Jesaja endlich in seinem zu Hause an. Ab da nahm sein Leben einen neuen Lauf.
Jesaja wurde auf zwei Jahre geschätzt. Man nimmt an, dass er seit er ein Welpe war oder als ganz junger Hund in den Zwinger kam. Er hatte noch eine ganz alte Marke, die darauf hinwies. Laut des Mannes, der die Hunde um Jesaja jetzt betreut, hieß es: „Die arme Seele ist durch die Hölle gegangen.“ An frisches Wasser und Futter jeden Tag war nicht zu denken. Hütten hatten die Hunde damals ebenfalls nicht. Wer weiß, was er in seiner Zeit in Campina erlebt und gesehen hat, denn bis vor etwa einem halben Jahr war es eine Tötungsstation.
Man braucht sich deshalb nicht zu wundern, dass der kleine Mann am liebsten unsichtbar geblieben wäre. Er vermied jeden Blickkontakt, versuchte so leise zu sein wie es ihm nur möglich war und tat so, als sei er gar nicht da. Gegessen und getrunken wurde in der Box.
In kleinen Schritten ging es weiter. Jesaja ließ sich aus der Hand füttern und traute sich die Umgebung aus der sicheren Box zu beobachten, aber nur so, dass wir lediglich zwei kleine Äuglein funkeln sahen. Langsam legte er den Kopf auf die Kante, bis er anfing den Kopf zum Essen und Trinken herauszustrecken. Anschließend wagte er es, gaaaanz vorsichtig, gaaanz langsam und auf gaaanz leisen Pfoten, die Box zu verlassen und sich im Wohnzimmer umzuschauen. Die Näpfe wurden immer weiter von der Box weggestellt.
Es dauerte ein wenig bis er sich traute, mehr vom Haus zu erkunden und die Schwelle des Wohnzimmers zu überqueren. Er fing an im Wohnzimmer herumzurennen und äußerst ausgelassen zu spielen. Langsam entdeckte er seine Stimme, die allerersten „Waus“ waren noch etwas zaghaft und klangen überaus witzig. Als er etwas sicherer war, versuchten wir ihn zu streicheln, was ihm natürlich komplett ungewohnt und noch ziemlich unheimlich war. Er fasste immer mehr Vertrauen und freute sich zusehends bei uns zu sein.
Bald fing er an uns von oben bis unten abzuschlecken und fast abzuheben, selbst wenn man nur für wenige Minuten aus der Sicht war. Er folgt uns überall hin! …Da gab es jedoch noch das Problem mit dem Geschirr. Das Geschirr selbst machte ihm nach einiger Zeit gar keine Angst mehr, es konnte am Körper hängen, auch das Clicken war kein Problem, aber es war ein Graus, sobald die Schlinge über den Kopf gezogen werden sollte. Es gab Momente, in denen wir dachten, wir würden das nicht schaffen. Noch immer findet er es nicht sonderlich angenehm, lässt sich aber mittlerweile anziehen.
Nun, als das Geschirr zum ersten Mal angezogen war, versagten ganz plötzlich die Beine, als ob es mehr wiegen würde als der kleine Jesaja selbst.
Nach einiger Zeit konnte er sich mit Mühe darin bewegen. Es klappte immer besser und so versuchten wir ihn nach draußen zu locken. Es war eine große Überwindung, aber es hat sich gelohnt. Ab dem Zeitpunkt konnten wir spazieren gehen, zunächst im Garten, dann vor dem Haus, anschließend an den Feldern und in den Wäldern, mittlerweile auch am Meer. Das Wasser findet er befremdlich und hält lieber Abstand, aber den Sand unter seinen Pfoten liebt er.
Zu Weihnachten lernte er immer mehr Familienmitglieder kennen und alle näherten einander mit Respekt und Vorsicht. Durch ein Weihnachtsgeschenk entdeckte er immer mehr seine Stimme, experimentierte mit ihr herum und inzwischen kommen ständig viele seltsame Töne aus der Kehle des kleinen Mannes. Es ist tatsächlich überaus lustig! Heute brachte er sogar seine Schwester in den Waldkindergarten und war zwar anfangs vorsichtig, aber schnell überaus interessiert an allem, beschnupperte die Kinder, die zu ihm kamen und hätte sie am liebsten begleitet.
Die Fortschritte, die Jesaja machte und weiterhin macht, waren rasant. Er entwickelte sich zu einem frechen, sehr verspielten, äußerst lebensfrohen und immer mutigeren Hund, der einfach glücklich darüber ist endlich eine Familie zu haben.
Wir ermutigen an dieser Stelle alle, auch den Hunden eine Chance zu geben, die aus Angst anfangs nicht angefasst werden möchten. Man muss den Hunden Zeit lassen und Geduld mitbringen, stets daran denken, dass der Hund das Tempo bestimmt. Manchmal schneller, manchmal dauert es länger, aber sobald die Hunde Vertrauen fassen, geht es meistens sehr schnell.
Selbstverständlich haben wir noch einiges zu tun und müssen an verschiedenen Dingen arbeiten, aber der kleine Mann hat bislang ja nichts anderes als das Heim kennengelernt und dafür, dass er gerade einen Monat bei uns ist, geht es richtig gut voran. Wir sind ganz stolz auf unseren Jesaja und hoffen auf eine schöne und möglichst lange gemeinsame Zukunft.
An dieser Stelle möchte ich noch erwähnen, dass jeder Hund anders ist und jeder etwas anderes, was ihn prägte, erlebt hat. Man weiß nie mit Sichterheit, wie sich ein Hund tatäschlich in seinem neuen Umfeld verhalten wird, es muss nicht unbedingt der Beschreibung entsprechen. Nach einigen Wochen, Monaten, kann er sein Verhalten erneut ändern. Momentan würde ich behaupten, dass wir auch Glück hatten.
Lucyna Saage ist Mitglied in der Hundegruppe „Endlich Daheim“ von ProDogRomania und hat mit dem kleinen Jesaja einem hoffentlich bald vorwitzigen Straßenhund ein Zuhause gegeben.