Pflegestelle und die Erwartungshaltung mancher Adoptanten
Ein Beitrag von Ilona Gehrig, Tiersinfonie Anou e.V.
Da auch ich fast immer Pflegestelle war und bin, kann ich auch hierzu mal einiges klarstellen.
Ich bin immer wieder erstaunt, was der künftige Adoptant von einem Hund, den er übernimmt, so alles erwartet. Meist den perfekt erzogenen Hund, der sich problemlos ins jeweilige Umfeld anpasst; natürlich muss er in der Nähe sein, weil weiter fahren muss man ja bei der Fülle an Angeboten nicht und gesund ist ohnehin klar. Den Orden für die „Gutmenschlichkeit“ gibt es noch oben drauf und eine lebenslange Garantie, dass, wenn man den Hund krank therapiert hat mittels falschem Tierarzt oder Hundetrainer, wir den natürlich gerne wieder zurücknehmen und ihn wieder „ganz“ machen.
Ja, wünschen darf man sich ja immer viel und ja, ich bin gerade ein wenig frustriert, denn es gibt zu viele aktuelle Beispiele, wo man die Welt nicht mehr versteht.
Deswegen erzähle ich am besten mal, was einen als Pflegestelle oder auch als Adoptant so erwartet.
Man nimmt meist Hunde auf, die nichts, aber auch wirklich gar nichts kennen. Es gibt Hunde, die haben damit so gar keine Probleme und verhalten sich so als wären sie schon immer da gewesen. Erstaunlich, wie anpassungsfähig Hunde sind, oder?
Aber es gibt ganz viele, die sind sensibler, traumatisierter und brauchen Zeit. Viel Zeit.
Die müssen Alltag lernen, die kennen kein Haus, keine Leine, kein Halsband, kein Geschirr, die wissen nicht, dass man im Haus seine Geschäfte nicht erledigt; dass man nicht auf dem Tisch steht; dass man nicht einfach an die Wände markiert. Sie wissen nicht, dass Decken, Hundebetten, Couch, Bett etc. bequemer sind als Europaletten oder Betonboden.
Sie erzählen viel von ihrer Vergangenheit, sind unruhig, ängstlich, brauchen Zuwendung und Führung, Trost, Verständnis und die Möglichkeit langsam ins Leben zurück zu kommen. Wenn solche Hunde ankommen, geht es für sie oft um nichts anderes als darum, zu überleben. Davon, das Leben zu genießen, sind sie weit entfernt. Das heißt, es müssen erst mal die Grundbedürfnisse gesichert sein und sie müssen erst mal Vertrauen lernen.
Warum denken eigentlich so viele, dass Hund dankbar sein muss? Weil Mensch ihn gerettet hat? Vergesst das, sind sie nicht und warum sollten sie auch? Bist Du dankbar, weil er Dich als Mensch bekommen hat?
Sie brauchen oft zwingend andere Hunde, um sich leichter orientieren zu können; das ist das, was vertraut für sie ist und das, wovor sie sich am wenigsten fürchten. Und sie sind da am ehesten bereit sich von ihnen ganz vieles abzuschauen.
Ihre Sehnsucht nach Menschen ist groß, die Angst vor ihnen aber oft noch größer. Diesen Spagat hinzukriegen und sowas wie Urvertrauen ganz neu oder wieder neu aufzubauen ist das Schwierigste.
Sie haben Umstellungsstress, das heißt oft tagelang Durchfall trotz Schonkost, werden Dich vielleicht öfter als eine Nacht um den Schlaf bringen, weil sie wimmern, weinen oder mal wieder die Wohnung mit stinkenden Hundehäufen dekorieren und Du stehst öfter als einmal mit den Socken in einer Urinlache. Sie haben im Dunkeln Angst, sie fürchten sich vor Schatten, bellen bei jedem Geräusch im Fernsehen und mögen oft keine Männer.
Jeder neue Hund bringt Unruhe in eine bestehende Gruppe und es braucht Zeit, Einfühlungsvermögen und viel Wissen, um so schnell wie möglich wieder Ruhe für alle reinzubringen. Ruhe ist Entspannung und sollte oberstes Ziel sein. Gerade wenn man, wie viele von uns, ohnehin nur Tierschutzhunde hat, die alle ihre eigene Geschichte und Baustellen haben.
Allein die Fütterung von mehreren Hunden ist schon ein Akt, für alle ein gutes Klima zu schaffen, damit alle stressfrei fressen können. Der neue Hund kennt kein gutes Futter oder musste oft darum kämpfen, etwas zu essen abzubekommen. Er wird oft, wenn er nicht getrennt wird von den anderen, in alle Näpfe springen wollen und einfach nur haben wollen, egal wie sozialisiert er ist. Die Gier ist größer. Und Impulskontrolle? Was bitte ist das denn?
Solche Hunde haben alle unendlichen Nachholbedarf in allem. Sie sitzen Dir, wenn nicht ängstlich, quasi auf dem Schoß, kriechen in Dich rein oder beanspruchen des nachts den Platz direkt neben Dir, was nur geht, wenn Du sehr soziale Hunde hast, die damit leben können und sogar ein gewisses Grundverständnis aufbringen. Ihr würdet Euch wundern, wieviel Mitgefühl die eigenen Hunde den neuen oft entgegen bringen.
Oder die ängstlichen, die meiden Dich wie die Pest, bei jeder Bewegung rennen sie panisch über Tisch und Bänke, rennen in die anderen Hunde, werfen ihren Futternapf um,…
Du kannst Dich nicht mehr drehen und frei bewegen, weil hinter Dir Dein Pflegi sitzt oder liegt – nein, er weiß nicht von alleine, dass das schlechte Liegeplätze sind, sein Focus liegt darauf, Dich nicht eine Sekunde aus den Augen zu verlieren und zu sichern, was er nun hat.
Wenn Du nicht darauf achtest, klaut er das Essen vom Tisch oder vom Herd. Woher soll er wissen, dass es nicht seines ist? Und es riecht doch soooo lecker.
Du kannst sehen, wie Du sie langsam an Dich gewöhnst und Gassi gehen wird nicht eher möglich sein, bis so viel Vertrauen da ist, dass er sich von seinen Bezugspersonen auch im Garten anfassen lässt. Das allein dauert oft Monate. Die, die Leine und Geschirr schon kennen, müssen langsam ans Gassigehen herangeführt werden. Keiner hat Muskulatur, mit keinem ist bisher gearbeitet worden. Sie ziehen von links nach rechts – das Leben ist ja so aufregend, so interessant oder auch angsteinflößend und sie können sich leicht erschrecken. Sie müssen nicht deswegen an der Leine bleiben, weil sie sich nicht an den Menschen binden können, sondern deswegen, weil sie Gefahren so gar nicht einschätzen können oder einfach ausgelassen ihre Welt erkunden wie ein Welpe und vollkommen vergessen, dass da noch ein Mensch dabei war oder eine Bundesstraße dazwischen.
Man managt mit mehreren Hunden den ganzen Tagesablauf ganz genau und freut sich über jeden Fortschritt in die richtige Richtung, zurück ins Leben.
Freut sich über das erste vorsichtige Schwanzwedeln, das erste ausgelassene Spiel im Garten, den ersten Blick zurück zu Dir. Ist berührt von kleinen Gesten, wenn sie Dir seufzend in den Nacken pusten oder Dir vertrauensvoll ihre Schnauze in die Hand legen; wenn sie anfangen, wirklich den ersten echten Kontakt zu Dir aufzubauen und Dich wirklich wahrnehmen, in Stresssituationen Schutz bei Dir suchen, dann weißt Du, Du hast alles richtig gemacht. Und Du wirst Dich als PS bange fragen, ob denn der künftige Besitzer auch wirklich das Vertrauen wert ist, das Dein Pflegling nun in Dich hat oder ob auch er ihn wieder enttäuschen wird. Vielleicht doch besser behalten, aber das geht ja nicht – man kann ja keine Hunde stapeln und könnte dann auch keinen anderen mehr helfen.
Oft haben sie chronische Ohrentzündungen, haben ewig fette Zahnbeläge und stinken aus dem Maul. Manche bringen, trotz aller Vorsichtsmaßnahmen, auch mal ein paar Flöhe mit. All das bringt man in Ordnung, sofern möglich. Alles mit dem Ziel, dass der Pflegehund irgendwann ein glückliches und artgerechtes Leben führt.
Warum ich das alles so genau aufschreibe?
Nun ja, die Anspruchshaltung der Adoptanten ist riesig, da wird ganz selbstverständlich erwartet, dass alles schon erledigt ist und der Hund doch bitte auch schon Sitz und Platz und Fuß kann, mit Messer und Gabel am Tisch sitzt und anständig isst, und am besten noch 1-10 Kunststückchen beherrscht oder schon ein paar Markerwörter kann.
Wenn der Hund lange genug auf PS ist, kann er einiges davon sicherlich, aber Ziel muss sein, dem Hund zuliebe, sobald er vermittelbar ist, so schnell als möglich sein Endzuhause zu finden und da ist es normal, dass man auch hier wieder ein paar Tage mit Umstellungsstress rechnen muss. Und auch, dass da die Besitzer die Arbeit dann fortführen. Warum auch nicht? Wo ist denn das Problem? Fragt sich doch auch kein Mensch bei einem Zuchthund, warum dann bei einem Tierschutzhund? Weil man hier ja schon genug damit tut, dass man so einen Hund bei sich aufnimmt?
Wisst Ihr nicht, was das für einzigartige Seelchen sind und dass sie alle Deine Mühe tausendfach zurückgeben?
Und Leute, mal ganz ehrlich: Wo bekommt man einen Hund her, der komplett geimpft, gechippt, kastriert ist, man keine extra Ausreisekosten zahlen muss, noch einen Mittelmeercheck durch ein Fachlabor dazu bekommt und dann soll der Hund auch noch perfekt erzogen sein für 300 Euro? Rassehunde kosten bei uns das Gleiche, egal wieviel WIR dafür bezahlt haben. Wie unser Bernhardiner Esmeralda, deren Ausreisevorbereitung und Transport weit über 2000 Euro kostete, nur damit sie heute ein artgerechtes Leben führen darf. Sie war uns das wert.
Und alle Beratungen – und das sind bei nicht wenigen Leuten wirklich Stunden – sind ohnehin gratis. Und ich stelle all mein Wissen und all meine Erfahrungen kostenlos zur Verfügung zum Wohl der Tiere, zum Wohl einer guten Mensch-Tierbeziehung. Wo bekommt man das heute noch?
Ja, wir sind die durchgeknallten Tierschützer, die das gerne tun, nicht für Euch, liebe Adoptanten, sondern für die Tiere, dafür, dass sie endlich glücklich sind.
Natürlich, wir brauchen Euch dringend und zum Glück gibt es auch die, die verstehen und zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort einfach da sind und selbstverständlich tun, was getan werden muss und sich aus tiefsten Herzen freuen, ihren Hund gefunden zu haben. Danke, dass es Euch gibt und ihr unsere Hoffnungsträger seid.
Aber ich verwehre mich dagegen, dass unsere Arbeit so wenig wertgeschätzt wird, ständig noch jemand meint, uns sagen zu müssen, was wir tun sollen oder was noch gemacht gehört und was man noch erwartet hätte.
Ich habe Verständnis für die, die sich noch nie damit beschäftigt haben. Ich war auch mal bei den Unwissenden, auch mal bei denen, die sich nie Gedanken gemacht haben, was da eigentlich an Arbeit hinter den Kulissen stattfindet. Aber ich habe mich eingearbeitet, ich habe gefragt und wollte wissen. Noch heute könnte ich vor Scham im Erdboden versinken, wenn ich an so manche Aussage von mir denke, die ich so unwissend von mir gegeben habe und andere dadurch verletzt habe, die mit viel eigenem Geld und großem Engagement meinen Hund gerettet haben.
Ich habe kein Verständnis für die „Gutmenschen“ und „Schnäppchenjäger“, die auf Kosten der Tiere ihren Hund aus dem Tierschutz beziehen und dann noch meinen, uns sagen zu müssen, was wir noch alles hätten besser machen müssen. Vergesst das, Menschen mit solchen Einstellungen werden bei uns keinen Hund mehr bekommen und wer ernsthaft wissen will, was alles dahinter steckt, darf ehrlich fragen und kriegt eine ehrliche Antwort oder darf auch gerne mal eine Weile unsere Arbeit machen. Wetten, dass dann die meisten ganz kleinlaut werden?
Und versteht endlich, dass das, was wir Tierschützer tun, ein Ehrenamt ist, das tun Menschen mit ihrem Geld, mit ihrer Freizeit und es sind ihre Nerven, ihre Tränen und ihre durchwachten Nächte. Oft an der Belastbarkeitsgrenze und fast immer ohne Wertschätzung durch die Gesellschaft.
Man könnte begreifen, dass Tierschutz uns alle angeht und dass es nur zusammen geht und dass Dein Hund auf Deinem Sofa nun glücklich liegt, ein Zusammenspiel von ganz vielen Leuten war, die alle ihr Bestes gegeben haben, damit Du heute mit Deinem Hund glücklich sein darfst.
Denkst Du nicht, das hat ein wenig Respekt und Wertschätzung verdient?
Die Verfasserin, Ilona Gehrig, ist Begründerin und Vorsitzende des Vereins „Tiersinfonie Anou e.V.“ und als solche dem Tierschutz besonders verbunden.
Die Fotos stammen alle von Ilona Gehrig und ihren Pfleglingen.